„Kultur-Splitter“ – Gottfied Benn: Satzbau

Angeregt durch die Diskussion auf Tanjas Blog, was Kultur sei, möchte ich regelmäßig unregelmäßig „Kultur-Splitter“ posten.


Heute

Gottfried Benn – Satzbau

Alle haben den Himmel, die Liebe und das Grab,
damit wollen wir uns nicht befassen,
das ist für den Kulturkreis besprochen und durchgearbeitet.
Was aber neu ist, ist die Frage nach dem Satzbau
und die ist dringend:
warum drücken wir etwas aus?

Warum reimen wir oder zeichnen ein Mädchen
direkt oder als Spiegelbild
oder stricheln auf eine Handbreit Büttenpapier
unzählige Pflanzen, Baumkronen, Mauern,
letztere als dicke Raupen mit Schildkrötenkopf
sich unheimlich niedrig hinziehend
in bestimmter Anordnung?

Überwältigend unbeantwortbar!
Honoraraussicht ist es nicht,
viele verhungern darüber. Nein,
es ist ein Antrieb in der Hand,
ferngesteuert, eine Gehirnlage,
vielleicht ein verspäteter Heilbringer oder Totemtier,
auf Kosten des Inhalts ein formaler Priapismus,
er wird vorübergehn,
aber heute ist der Satzbau
das Primäre.
„Die wenigen, die was davon erkannt“ − (Goethe) −
wovon eigentlich?
Ich nehme an: vom Satzbau.

… aber heute ist der Satzbau / das Primäre, behauptet Gottfried Benn. Ein provokativer Standpunkt. Nicht Sprache als Übermittler, sondern ihre suggestive Kraft. Die bis dahin unangefochte und  auf den „Inhalt“ abzielende Deutungstradition lehnt er ab: Nie wird der Deutsche erfassen, niemand wird ihm gegenständlich machen können (und es ist ja auch gar nicht nötig, daß es geschieht), daß zum Beispiel die Verse Hölderlins substanzlos sind, nahezu ein Nichts, um ein Geheimnis geschmiedet, das nie ausgesprochen wird und das sich nie enthüllt.

Und nicht das Wie interessiert ihn, sondern das Warum! Und das Woher.
Woher kommt der Drang, sich auszudrücken, woher dieser schöpferische Formulierungswahn – Überwältigend unbeantwortbar!

Wie Ludwig Harig in seiner Interpretation ausführt:“ im vollkommenen Satzbau beglaubigt sich die Kunst selbst. In ihm gelingt es, Vorgestelltes ins Faßbare, Erfundenes ins Wirkliche der Kunst zu verwandeln. Nur das Gestaltete übersteht den Zerfall. Am Ende wendet sich der Dichter in einer scheinbar ironischen Finte an den Leser. Er spricht ihn nicht freundlich an, sondern stößt ihm, mit einem Goethewort seine Ignoranz bekräftigend, unfein vor den Kopf.“  (Ludwig Harig aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretation. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002).

Nur das Gestaltete übersteht den Zerfall.

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