„Zeit, sich zu verändern“ Ein Beitrag von Martin Otto-Hörbrand #museumforfuture

Martin Otto-Hörbrand ist Referent für Öffentlichkeitsarbeit im Linden-Museum Stuttgart 

Die Pandemie stellt uns vor große Herausforderungen, beschleunigt aber auch Veränderungsprozesse. Schlagartig ist uns allen klar geworden, welch zentrale Aufgabe die Digitalisierung für Museen ist, um die oft proklamierte gesellschaftliche Relevanz einzulösen.
Gleichzeitig wurde deutlich, wo wir an diesem Punkt stehen – und das ist noch nicht wirklich weit vorn. Zeit, sich zu verändern.

In der Lockdown-Werkstatt

Ich möchte aus unserem Museum erzählen. Im ersten Lockdown, als wir noch von einer kurzen, einmaligen Unterbrechung des Betriebs ausgingen, haben wir zunächst versucht, unser Publikum zu unterhalten: Wir haben Videos mit persönlichen Geschichten über Ausstellungsstücke gedreht, Instagram-Führungen angeboten, eine interaktive Quiz-App mitgestaltet. Die Resonanz auf die Angebote war gut bis außerordentlich, nahm aber nach Ende des ersten Lockdowns schlagartig ab. Wir haben in dieser Phase viel ausprobiert, die oberste Priorität hatte hier die Schnelligkeit, neue Angebote bereitzuhalten. Die meisten Produktionen haben wir mit eigenem Personal gestemmt. Wir haben gemerkt, was wir können (und was nicht), wo wir zusätzliches Know-how oder einfach nur besseres Equipment benötigen. Und wir haben gemerkt, dass wir viel Spaß an der Sache haben, weil wir uns teils im Austausch mit digital erfahreneren Kolleg*innen aus anderen Museen, teils im eigenen Learning by Doing neue Kompetenzen aneignen, stärker im Team arbeiten und durch das in manchen Formaten sehr unmittelbare, gleichzeitig aber auch vielfältige Feedback der User angespornt fühlen. 


Neue Gesichter, neue Resonanzräum

Interessanterweise war unser gedanklicher Ausgangspunkt für diese ersten Angebote immer unser vorhandenes Publikum, das sonst leibhaftig unser Museum besucht. Wie engstirnig! Wir waren überrascht, plötzlich viele neue Gesichter (und die „Gesichter“ meine ich durchaus wörtlich, denn mit vielen virtuellen Besucher*innen ist ein Austausch über unterschiedlichste Kanäle entstanden) zu sehen. Wir erreichen viele Menschen quer durch alle Altersschichten, die aus verschiedenen Gründen nicht zu uns kommen können: weil sie zwar in der Stadt leben, aber kleine Kinder haben und abends nicht zu Veranstaltungen ins Museum können, weil sie körperlich nicht in der Lage sind, Museumsbesuche zu machen, weil sie von uns zwar schon in Feuilletons gelesen oder auf Deutschlandradio gehört haben, aber zu weit entfernt leben. Auch junge Menschen, die es cool finden, wenn wir z. B. über Instagram live senden, gibt es, und Geschäftsleute, die keinen halben Tag (mit An- und Abreise) bei uns verbringen würden, aber einen Timeslot von einer halben Stunde gerne in ihren Alltag integrieren. Und auch ein internationales Publikum, das wir bisher vor allem über Twitter adressiert haben, können wir mit maßgeschneiderten Formaten erreichen. Eine spanischsprachige Highlight-Führung unserer Direktorin zur Großen Landesausstellung „Azteken“ erreichte durch mexikanische Besucher*innen annähernd die Klickzahlen unserer deutschsprachigen Digital-Angebote zum Thema und ein großartiges Echo. 

Im Augenblick verlegen wir die Begleitveranstaltungen zur Werkstattausstellung „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“, die noch nicht eröffnen konnte, ins Digitale. Auch hier öffnen sich für ein gesellschaftlich viel diskutiertes Thema neue, größere Räume, auch Resonanzräume. Wir merken, dass die Themen, die wir behandeln – beispielsweise der Umgang mit kolonialen Denkmälern, White Saviorism oder diskriminierenden Elementen in der Alltagssprache -, nicht nur für Stuttgart interessant sind, sondern weit darüber hinaus. Mit der Hochschule der Medien Stuttgart entwickeln wir derzeit Podcasts zu Themen unseres LindenLABs, das sich mit der Zukunft des Museums befasst. Zum LindenLAB über Provenienzforschung hat der Kollege Markus Himmelsbach eine virtuelle Ergänzung erstellt, in der Besucher*innen interaktiv-spielerisch die Recherchen eines Provenienzforschers nachvollziehen können.

Neue Ansätze in der Vermittlung und im Audience Development

Unsere digitalen Erfahrungen liefern uns auf diese Weise neue Ansätze für das Audience Development genauso wie für die Vermittlung, die wir strategisch für die Zukunft nutzen möchten. Wir werden Veranstaltungen wie Vorträge oder Diskussionsrunden, bei denen wir derzeit in digitalen Live-Formaten immer zwischen 100 und 250 Personen (wenn aufgezeichnet wird, entsprechend mehr) erreichen, auch nach Ende des Lockdowns so weit möglich im Hybrid-Format anbieten. Da Klassenbesuche im Museum wohl noch mindestens für dieses Schuljahr nicht erwartbar sind, entwickeln meine Kolleg*innen von der Museumsvermittlung derzeit ein neues Konzept: Nicht die Schule geht ins Museum, sondern das Museum in die Schule. Ein hybrider Ansatz wird die Ausstellung „Schwieriges Erbe. Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus“ in einer Kombination von digitalen Inhalten und persönlicher Vermittlung in den Schulunterricht transferieren. Auch Programme für Familien werden wir in Zukunft verstärkt digital denken: Erste Erfahrungen haben wir in einem öffentlichen Zoom-Meeting gesammelt, als wir zum „Día de los Muertos“ Kinder unseres Jugendclubs mit in Deutschland lebenden mexikanischen Kindern ins Gespräch über die in ihren Wohnungen aufgebauten Ofrendas (Gabentische zum Totengedenken) brachten. Das ist ein Beispiel, wie das Digitale einen Mehrwert schaffen kann: Es bringt Menschen zusammen, die sich sonst nicht treffen könnten, und gibt persönliche Einblicke, die sonst verschlossen blieben. Zudem hatte diese kleine Veranstaltung eine wichtige partizipative Komponente, die wegweisend für viele andere Veranstaltungen sein kann. In digitalen Formaten ist es möglich, Menschen aus anderen Teilen der Welt ohne organisatorischen Aufwand und immense Kosten für Flüge für eine Veranstaltung in einem Raum zu versammeln und so neue Perspektiven kennenzulernen. Das ist für uns als ethnologisches Museum, das versucht, eurozentrische Sichtweisen aufzubrechen, indigenen Stimmen Gehör zu verschaffen und Mehrstimmigkeit und Teilhabe zu ermöglichen, von ganz entscheidender Bedeutung. Und für das Publikum, wo auch immer es sitzt, ein großer Gewinn. 

Digitalisierung verstärkt die Teilhabe 

Unabhängig von den Corona-Entwicklungen haben wir Ende November unsere „Sammlung digital“ gelauncht, an der wir zwei Jahre gearbeitet haben. Sie ist ein Meilenstein unserer Digitalstrategie und als Präsentations- und Kommunikationsplattform der zentrale virtuelle Zugang zu den Beständen des Museums. Als notwendige Basis für künftige partizipativ angelegte digitale Projekte spricht die Plattform vielfältige Nutzergruppen an. Sie fördert den Austausch mit Wissenschaftler*innen und Vertreter*innen der verschiedenen „Herkunftsgesellschaften“ der Ausstellungsstücke ebenso wie den Dialog mit der lokalen Stadtgesellschaft und einem internationalen Publikum. Mit der „Sammlung digital“ schaffen wir einen offenen Zugang zu unseren Sammlungen und erweitern auch das erfolgreiche Konzept des gemeinsamen vielstimmigen Forschens, Lernens und Vermittelns aus der täglichen Arbeit in den digitalen Raum. Der virtuelle Austausch soll nicht zuletzt neues Wissen über die Objekte sowie ihre Herkunftskontexte erschließen. Interessant hierzu war die digitale Pressekonferenz zum Launch der Sammlung. Eine so große Anzahl an Journalist*innen verzeichneten wir sonst nur bei Großen Landesausstellungen. Klar, dass damit ein Reichweitengewinn für die Datenbank verbunden ist. Viele der Corona-Erfahrungen werden auch in die Konzeption unseres Website-Relaunchs einfließen, der für die zweite Jahreshälfte geplant ist.

Auch unsere internationale Zusammenarbeit verändert und verbessert sich dank der Digitalisierung: Notgedrungen hatten wir im Oktober eine Myanmar-Konferenz mit Teilnehmer*innen aus drei Kontinenten digital veranstaltet. Abgesehen davon, dass ein amerikanischer Kollege wegen der enormen Zeitverschiebungen einmal nachts um 3 Uhr aufstehen musste, verlief das Symposium für alle fast „wie eine echte Konferenz“. Für Oktober 2021 planen wir derzeit die Ausstellung „Von Liebe und Krieg“ über tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Diaspora: mit einem Co-Kurator aus Chennai, einem internationalen Netzwerk aus Wissenschaftler*innen sowie einem Gestalterbüro aus Amsterdam. Klappt wunderbar. 

Entspannt in den Frühling

Und manchmal trägt die Digitalisierung auch ganz konkret zur Entspannung bei: Regelmäßig haben wir inzwischen einen Online-Workshop zu Meditation und Qi Gong am Sonntagnachmittag. 

Was trotz allem fehlt, ist und bleibt der persönliche Austausch. Ein Kollege rief deshalb ab sofort für alle, die möchten, die digitale Mittagspause ins Leben. Er vermisst – wie ich auch – 

die informelle Ebene, das kleine Gespräch nach dem Meeting, das Lachen und Fluchen auf den Fluren, das Quatschen in der Kaffeeküche oder eben der Mittagspause, das Gesehenwerden jenseits der Arbeitsabläufe. Irgendwann wird das wiederkommen und wir werden es anders zu schätzen wissen. Und es wird ein schöner Frühling sein, denn wir werden von unserer digitalen Winterarbeit noch nachhaltig zehren.

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